Eine Kindheit zwischen den Systemen

Drago Jančar stellt beim Literaturpflaster seinen Roman „Als die Welt entstand“ vor

Am Ende eines gelungenen Literaturpflaster-Abends (von links): der slowenische Autor Drago Jančar, Organisatorin Rikarde Riedesel und 'deutsche Stimme' Christiane Biechele. (Foto: Claudia Irle-Utsch)

Bad Berleburg. Im Frühling. Zwei Worte am Anfang einer Geschichte, die vom Entstehen erzählt, vom Wachsen und Werden, von einer Wandlung, eingebettet in ein größeres Ganzes, das neben dem zarten Zauber dieser Zeit auch das Unabänderliche sieht, das Vergehen.

Vielleicht hat Danijel davon eine vage Ahnung, aber er bricht zuallererst auf. Er will Welten entdecken: die fernen Welten, von denen er aus dem Radio, der Zeitung oder den Büchern von Professor Fabjan erfährt, und jene Welt, die ihn seit jeher umgibt und die des Sonntags nach gerösteten Zwiebeln, Knoblauch, Kartoffeln und Braten riecht. Irgendwie scheinen sich die beiden Welten einander zu nähern, an jenem Tag im Frühling. Denn in die Erdgeschosswohnung zieht ein Fräulein ein, Lena. Und sie bringt nicht nur Danijel gründlich durcheinander.

Diese Geschichte könnte so erst einmal vielerorts geschehen, jedenfalls dort, wo zum Sonntag auch der Braten gehört und wo eine unverheiratete Frau als Fräulein gilt. Doch Drago Jančar siedelt diesen Plot in seinem Roman „Als die Welt entstand“ dort an, wo er selbst aufgewachsen ist: im Nordosten Sloweniens, nicht allzu weit von der Grenze zu Österreich, in Maribor an der Drau. Hier lebt Danijel mit Vater, Mutter, Bruder in einer Art Zwischenzeit. Ende der 1950er-Jahre ist der Zweite Weltkrieg für die einen gewonnen – auch für den Vater, den kommunistischen Kämpfer – für die anderen verloren – wie für den Vater des Freundes, für den nicht nur den Krieg, sondern als Wehrmachtssoldat auch ein Bein dahin ist. Slowenien gehört nun zur Föderativen Volksrepublik Jugoslawien. Somit wächst Danijel in einem Staat heran, der sozialistisch denkt, aber immer noch ziemlich katholisch glaubt und fühlt. Der „arme Junge“ stehe also zwischen zwei großen Systemen, sagt Drago Jančar.

Er ist am Montagabend zu Gast beim 30. Berleburger Literaturpflaster und stellt in der als „Dritten Ort – Bücherei der Zukunft“ ausgezeichneten Stadtbibliothek den Helden seines Romans persönlich vor. Mit ganz viel Sympathie für diesen Teenager, dessen Coming-of-Age-Geschichte in Teilen recht unmittelbar an der eigenen Biographie anknüpft. Drago Jančar, 1948 in Maribor geboren, hat dem Lebensgefühl seiner Heimatstadt von einst nachgespürt.

Damals sind die Erinnerungen an die Schrecken des Krieges – das Wüten der Gestapo, das Bombardement der Alliierten – und auch an die brutalen Vergeltungsakte der slowenischen Partisanen noch nicht verblasst. Damals folgt auf den politisch-gesellschaftlichen Winter ein Frühling. Voller Hoffnungen und Erwartungen, jedenfalls für einen Jungen wie Danijel. Der kann es manchmal nur sich selbst recht machen. Und so trägt er das Shirt mit der Aufschrift „Red Devils“, das einer dieser „Fetzen“ aus dem Paket des nach Amerika emigrierten, sehr christlichen Onkels ist, gegen allen Widerstand: den der Eltern, aus unterschiedlichen Motiven, den des Pfarrers, der sich beim Anblick Danijels sicherheitshalber gleich bekreuzigt, und den des Lehrers, der solche antikommunistische Propaganda im Klassenraum nicht dulden kann.

„Das ist meine Geschichte“, antwortet Drago Jančar in Berleburg auf die entsprechende Nachfrage von Literaturpflaster-Organisatorin Rikarde Riedesel. Er habe solch ein „Red-Devils“-Shirt aus einem der Pakete für „die armen Leute, die im Kommunismus leben“ getragen; er selbst sei mit den unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt herangewachsen. Teilbiografisch sei der Roman „Als die Welt entstand“, ein Puzzle aus vielen Geschehnissen, die sich so oder so ähnlich ereignet hätten. „Was wahr und echt ist, ist die Atmosphäre, die ich schildere“, so der Schriftsteller, der als der bedeutendste zeitgenössische Autor seines Landes gilt.

Im Verbund mit Christiane Biechele, die exemplarisch Passagen aus dem Roman las, und Rikarde Riedesel gelang es Drago Jančar, die Zuhörerschaft dieses Literaturpflaster-Abends mit seiner Schilderung eines Zeitengemäldes, zwischen unbedingter Ernsthaftigkeit und humorvoller Ironie, zu fesseln. Ein großer literarischer Abend! Am Ende war in der Bibliothek die kleine Ladentheke der Berleburger Mankelmuth-Filiale fast leergekauft. Zu Recht: „Als die Welt entstand“ muss gelesen werden. Denn wie die Geschichte von Fräulein Lena und dem Pepi ausgeht, verriet Drago Jančar nicht.

An Mittwoch, 25. Oktober, 19.30 Uhr, gibt es die letzte Lesung im Rahmen des diesjährigen Literaturpflasters: Aleš Šteger stellt seine „Gebrauchsanweisung für Slowenien“ im Sanitätshaus Kienzle vor.

Von Claudia Irle-Utsch


WESTFALENPOST (25.10.2023)
Internet: www.wp.de/staedte/wittgenstein/
Bildquelle: Foto von Claudia Irle-Utsch

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