Wem gehört die Wahrheit?

Helga Flatland stellte „Eine moderne Familie“ bei Literaturpflaster vor

Die norwegische Autorin Helga Flatland präsentierte ihren Roman 'Eine moderne Familie' am Donnerstagabend im EJOT-Labor in Bad Berleburg. Ihre Lesung war die letzte des Literaturpflasters 2019. (SZ-Foto: zel)

Bad Berleburg. (zel) „Niemand möchte Geschichten über glückliche Familien hören“, sagt Helga Flatland. Also hat sie einen Roman über eine glückliche Familie geschrieben. Klingt das paradox? Nicht wenn man weiß, dass der norwegischen Großfamilie – Vater, Mutter, drei erwachsene Kinder, deren Partner und zwei Enkelkinder – das Glück ausgerechnet auf einer Italienreise abhandenkommt. Sverres 70. Geburtstag soll hier gefeiert werden, aber statt eine Rede auf ihren Mann, mit dem sie seit 40 Jahren verbunden ist, zu halten, druckst Mama rum, bis schließlich Sverre mit der bahnbrechenden Information herausrückt: „Wir haben beschlossen, uns scheiden zu lassen.“ Bäm.

Ihren Roman „Eine moderne Familie“ erzählt die norwegische Autorin Helga Flatland aus drei verschiedenen Perspektiven: denen der Kinder. Die Eltern hätten sie nicht so sehr interessiert, sagte sie am Donnerstagabend bei der letzten Literaturpflaster-Lesung im EJOT-Labor in Bad Berleburg im Gespräch mit Rikarde Riedesel. Es seien vielmehr die drei erwachsenen Kinder Liv (40), Ellen (38) und Håkon (30), ihre Sichtweisen auf die innerfamiliären Vorgänge und die Frage „Wem gehört die Wahrheit?“, die sie beim Schreiben ihres fünften Romans bewegt hätten.

Obwohl die Geschwister die gleichen Gene und denselben Background hätten, seien sie doch verschiedene Persönlichkeiten, die auf die unerwartete Neuigkeit der bevorstehenden Scheidung der Eltern – die 70-Jährigen sind heute so ganz anders als früher, aktiver, zukunftsorientierter – höchst unterschiedlich reagierten. Da ist die kontrollierte und kontrollierende Liv. Da ist Ellen, die sich so sehnlichst ein Baby wünscht und von der Nicht-Erfüllung dieses Wunsches depressiv wird, und da ist Håkon, der mit einem Herzfehler zur Welt kam und immer das Baby der Familie geblieben ist, weil die Eltern nicht aufgehört haben, ihn zu verhätscheln. Flatland, die selbst zwei Schwestern und einen kleinen Bruder hat, hat ihren Geschwistern versprochen, „überall zu sagen, dass die Charaktere im Roman nicht wie ihre eigenen Geschwister sind“, und das tat sie auch hier mit einem Lächeln.

Livs und Ellens Erzählstränge sind miteinander verwoben, die zwei stehen sich auch sehr nah, kommunizieren, telefonieren viel. Håkon ist erst am Ende des Buches dran, zwei Jahre nach dem 70. Geburtstag. Er berichtet, wie er, der all die Jahre die freie Liebe propagierte und lebte, sich nun heftig in Anna verliebt hat – vielleicht ist das eine Befreiung, vielleicht ist Anna nur ein Ersatz für den immer sicher geglaubten, gemütlichen Kokon, den die Eltern um ihren sehnlichst erwünschten Jüngsten gesponnen haben ...

Helga Flatland las einige Passagen auf Norwegisch. So also klingt die Sprache des diesjährigen Buchmessen-Gastlands! Christoph Haupt, wie Riedesel vom Literaturpflaster-Veranstalterteam, las den deutschen Text. Rikarde Riedesel stellte immer wieder Fragen und übersetzte Flatlands englische Antworten – eine unterhaltsame, informative Mischung war das.

Die Textauswahl allerdings – laut Rikarde Riedesel hat der Verlag dafür Vorschläge gemacht – ließ einen nach anderthalb Stunden mit einem Hüngerchen zurück: Die spannende Versuchsanordnung ist ausführlich dargestellt worden, aber was die Scheidung der Eltern, ja doch eine veritable Erschütterung, auch im Erwachsenenalter, mit den drei Kindern macht, wie sie sich auf deren Leben und die Beziehungen untereinander auswirkt, die Antwort darauf blieben die drei Akteure dem rund 90-köpfigen Publikum schuldig. Das allerdings machte regen Gebrauch von der Möglichkeit, „Eine moderne Familie“ vor Ort zu erwerben und signieren zu lassen. Die verbliebenen Leerstellen werden sich dann beim Lesen füllen.

Helga Flatland wie auch Andreas Wolf, bei Gastgeber EJOT für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, erhielten von Rikarde Riedesel keine Blumen, sondern Literaturpflaster-Steine als Erinnerung und als Dankeschön. Für dieses Jahr heißt es also „Takk, Norwegen“ und im nächsten Jahr „Welcome, Canada!“


Siegener Zeitung (26.10.2019)
Internet: www.siegener-zeitung.de
Bildquelle: SZ-Foto von (zel)

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