Mit Li Er war ein Mitglied der
offiziellen Delegation auf dem Literaturpflaster

Was immer Li Er den gut 50 Zuhörern in der Berleburger Bücherei – auch nach der Lesung – mitzuteilen hatte, übersetzte Peggy Kamens ins Deutsche. (SZ-Foto: Jens Gesper)

China ist freier –
als man denkt

Bad Berleburg. (jg) Mit dem Chinesen Li Er war vorgestern der erste Gast auf dem Berleburger Literaturpflaster, der zur offiziellen Buchmessen-Delegation seines Landes gehört. Früher war es stets eine Ehre, so jemanden in Wittgenstein begrüßen zu dürfen. Aber wie ist das bei einem Gastland wie China, das nach unserer Wahrnehmung fernab von politischen Freiheiten und mit wenig Achtung für das Individuum schon im Vorfeld der Messe seine Muskeln hatte spielen lassen?

Immerhin las der Schriftsteller des Jahrgangs 1966 aus dem Werk, das gerade erst auf Deutsch unter dem Titel "Koloratur" erschienen ist. Und dessen Hauptperson trägt den Namen Ge Ren – was sich im Chinesischen wie das Wort für Individuum anhört.

Auch die Botschaft des Buches ist eine unerhörte, schließlich schildern hier Kommunist, Nationalist und Japaner verschiedene Sichten auf eine Wahrheit und instrumentalisieren den Protagonisten – also das Individuum – für ihre eigenen Zwecke. Die Wahrheit ist nicht mehr wie sonst üblich etwas Absolutes, sondern liegt plötzlich im Auge eines jeden Betrachters.

So kompliziert, wie sich das anhört, war die Lesung auch. Selbst wenn Hauptorganisatorin Rikarde Riedesel mit dem Autor im Vorfeld wohl durchdacht die Lesestellen ausgesucht hatte, die es auf Deutsch von Peggy Kamens, der Übersetzerin des Abends, gab – und als besonderes Schmankerl noch einige auf Chinesisch vom Autor selbst. Es war keine leichte Kost, die die gut 50 Zuhörer in der Berleburger Bücherei aufgetischt bekamen, aber es war hohe Literatur, wie allein das kunstvoll-komponierte Konzept hinterm Buch verriet.

Zum Abschluss wurden noch ein paar Fragen gestellt – und da ging es etwa um die Situation der Menschen im Reich der Mitte. "China ist viel offener, als es die meisten Menschen im Westen annehmen", sagte der sympathisch wirkende Li Er mit seiner schönen tiefen Stimme dazu. Darüber kann man sich ärgern, man kann aber auch sehr wohl die Relativität des Urteils anerkennen, die im zweiten Satzteil deutlich wird. Und den ganzen Abend saß Li Er in der Bücherei einem Buch gegenüber, auf dessen Titel groß und breit "Dalai Lama" prangte. Und Li Er hat sich nichts anmerken lassen. Möglicherweise hat er es nicht gesehen, vielleicht aber doch ...

Von Jens Gesper


Siegener Zeitung (10.10.2009)
SZ-Foto: Jens Gesper (jg)

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