Isländischer Autor Hallgrímur Helgason plaudert über seinen Roman an ungewöhnlicher Stelle

1.000 Grad in der Backstube

Vor noch warmem Backofen 'garten' Marlen Jourdan (VHS, l.) als deutsche Erzählstimme, Rikarde Riedesel (Stadt Bad Berleburg) und Autor Hallgrímur Helgason 'Eine Frau bei 1000°' in der Backstube des Café Wahl. (WP-Foto: Christiane Sandkuhl)

Bad Berleburg. (cs) Eigentlich sollte das Angebot von Bäckermeister Andreas Wahl an Stadtarchivarin Rikarde Riedesel eher ein Scherz sein, als er seine Backstube als Veranstaltungsort für eine Lesung des Literaturpflasters zur Verfügung stellte. "So schnell habe ich noch nie eine E-Mail beantwortet und bei dieser kuriosen Idee sofort zugeschlagen", beteuert die Mitorganisatorin.

90 gestellte Stühle reichten bei dem Andrang zwischen Backblech, Hefe, Zucker und Ofen bei weitem nicht aus. Es ging im Vorfeld bereits heiß her, und dass mit dem Buchtitel "Eine Frau bei 1000°" im Hinterkopf.

Gut gerüstet mit Gebäck und spendierten Getränken seitens der Familie Wahl begrüßten über 100 Menschen den isländischen Schriftsteller und Maler Hallgrímur Helgason. In Deutschland ist er kein unbeschriebenes Blatt, denn bereits fünf seiner acht Romane sind ins Deutsche übersetzt. Das Kuriose an seinem neuesten Roman "Eine Frau bei 1000°" ist die Voraberscheinung in Deutschland. In Island liegt der Roman erst zu Weihnachten vor.

Hallgrímur Helgasons Romane "Rokland" und "101 Reykjavik" wurden schon verfilmt.

Der Autor erklärt seine Vorgehensweise und das Gefüge seiner Romane. "Eine Frau bei 1000°" entstand unter Verwendung authentischer Elemente. Seine Protagonistin, die er Herbjörg Björnsson nennt, lernt der Autor im richtigen Leben im Wahlkampf seiner Ex-Frau für ihre Partei kennen. Das reale Leben der Frau ist ungewöhnlich, nicht alltäglich, geschichtsträchtig und zu schade, um einfach irgendwann zu den Akten gelegt zu werden. "Ich denke, ich habe hier Wahrheit und Dichtung ein Gleichgewicht gegeben", erzählt Hallgrímur Helgason.

Herbjörg lebt in einer Garage, zusammen mit Laptop, einer Handgranate, Bett und Klo, wie sie selbst berichtet. Im Umgang mit sich selbst ist sie außerordentlich burschikos: "Ich bin eine alte Matratzenhyäne", wenn sie über ihre Liebschaften berichtet. Sie geht nicht hart mit sich ins Gericht und sieht ihr gelebtes Leben als etwas an, wofür sie sich nicht schämen muss.

Hart an der moralischen Grenze ist die Romanfigur einer femme fatale gleichzusetzen, die in allen Punkten über sich Tacheles spricht. Ihre Tage sind gezählt und dies begründet für sie ihre Offenheit und die Reservierung eines Einäscherungstermins.

Hallgrímur Helgason kreiert aus seinem spontanen Telefongespräch eine lesenswerte Lebensgeschichte, die in Wirklichkeit einen Skandal hervorgerufen hätte. Was macht die alte Frau mit der Handgranate, die ein Rudiment, ein deutsches Stahlei ist, wie wird sie weiterhin damit umgehen? Warum haust die pflegebedürftige Frau in einer Garage? Antworten, die sich im Romanverlauf erschließen, an jeder Ecke und allen Seiten rasantes Leben bieten.

Der Autor geht überaus humorvoll mit Einzelpassagen um, hinterlässt hier und den da den Geschmack von Bitterkeit und kann sicher gehen, den Zeitgeist getroffen zu haben.

Die reale Herbjörg wünscht sich angesichts ihres nahen Todes eine Einäscherung. Die Feuerbestattung, das Krematorium, die Auseinandersetzung mit dem Krieg und ihrem Dasein als Frau führen schließlich Hallgrímur Helgason nach langer Suche zum Romantitel.

Gespannt ist er nun auf die Reaktionen in Island und der Familie Björnsson. Björnsson ist der authentische Name der Protagonistin, der Enkelin des ersten isländischen Präsidenten Sveinn Björnsson.

Von Christiane Sandkuhl


WESTFALENPOST (08.10.2011)
Internet: www.derwesten.de/staedte/bad-berleburg/
Bildquelle: WP-Foto von Christiane Sandkuhl (cs)

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