Weder Schwarz noch Weiß

Die Autorin Emmanuelle Pirotte erzählt in ihrem Roman "Heute leben wir" über eine Freundschaft zwischen SS-Mann und jüdischem Kind - und trifft auf Kritik

Kultur vor Schaumstoff: Die belgische Autorin Emanuelle Pirotte (Mitte), gemeinsam mit Übersetzerin Marlen Jurdan (links) und Rikarde Riedesel vom Literaturpflaster. Schauplatz ist die Versandhalle der Firma BSW. (WP-Foto: Marcel Krombusch)

Bad Berleburg. So viel Publikum hatte Emanuelle Pirotte nicht erwartet. "In Belgien und Frankreich musste ich häufig nur vor fünf oder sechs Personen lesen", lacht die belgische Autorin und schaut begeistert auf die gut gefüllten Sitzplätze vor ihrem Lesetisch. Die Gäste der zweiten Lesung des Literaturpflasters erwartete am Dienstag jedoch ein Roman, der aufwühlt: In "Heute leben wir" erzählt Pirotte eine fiktive Geschichte aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges.

"Er ist eine Tötungsmaschine."
Emanuelle Pirotte Autorin von "Heute leben wir", über den deutschen Soldaten Matthias, eine Hauptperson ihres Romans

Schauplatz ist das von Deutschen besetzte Belgien in den letzten Jahren des Krieges. Das jüdische Waisenkind Renée gerät in die Hände von Matthias, einem gefühllosen SS-Soldaten. "Er ist eine Tötungsmaschine", beschreibt Emanuelle Pirotte den Charakter des Mannes, der zum Pulsschlag ihrer Erzählung werden soll.

Literaturpflasterstein

Geschichte der Grautöne

Nach der Begegnung führt Matthias, gemeinsam mit einem Kameraden, das kleine Mädchen Renée in ein Waldstück – um es zu töten. Er zielt auf ihren Rücken – und plötzlich dreht sich das mutige Kind um, will dem Mörder in die Augen sehen. Ein Moment, der alles verändert.

"Matthias ist beeindruckt vom Lebenswillen des kleinen Waisenkindes, das wirft ihn aus der Bahn", kommentiert Rikarde Riedesel, die als Moderatorin durch den Abend führt.

Matthias überlegt kurz, richtet die Waffe dann auf seinen Kameraden – und drückt ab. Was folgt, ist ebenso eine Rettungsaktion, wie der Beginn einer Freundschaft.

Keine zehn Roman-Seiten sind gelesen, da entwickelt sich, statt der oft erzählten Geschichte von Peiniger und Opfer, ein spannender Blick auf die Grautöne der menschlichen Seele.

Kritische Stimmen in Frankreich

"Matthias ist kein Charakter, den man nur mit Schwarz oder Weiß betrachten kann", erläutert Pirotte im Gespräch mit Riedesel. "Gerade die Vielfalt ist menschlich. Sie steckt in jedem von uns."

Eine Einsicht, die nicht allen gefällt, wie Pirotte einräumt: "Bei einer Lesung in Frankreich hat mich eine Lehrerin heftig angeschrien", erinnert sich die Autorin. "Sie meinte, ich wecke im Roman Sympathien für ein Monster."

Mit Gegenwind hatte die gebürtige Belgierin in Berleburg nicht zu kämpfen. Im Gegenteil: Die lebendigen Textpassagen, gefühlvoll gelesen von Übersetzerin Marlen Jurdan, trugen eine besondere Stimmung in die Versandhalle der Berleburger Schaumstoffwerke. Nach der Premiere letztes Jahr fand zwischen Paletten und Schaumstoffmatten zum zweiten Mal eine Lesung des Literaturpflasters statt.

"Vielen Dank für ihr andächtiges, fast religiöses Zuhören", fand Pirotte freundliche, fast erleichterte, Worte am Ende des Abends. "Das Buch kann nun mal starke Reaktionen hervorrufen."

Von Marcel Krombusch

Lesestoff für die große Leinwand

  • Die Drehbuchautorin Emanuelle Pirotte legt mit "Heute leben wir" ihren ersten Roman vor.
  • Ursprünglich war statt des Buches ein Film geplant – Aufwand und Kosten legten das Projekt aber auf Eis.
  • Der Erfolg des Buches erneuerte die Pläne: Drehbeginn ist im Frühjahr 2018.

WESTFALENPOST (22.09.2017)
Internet: www.wp.de/staedte/wittgenstein/
Bildquelle: WP-Foto von Marcel Krombusch

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