Als in St. Louis lebendige Menschen ausgestellt wurden
Literaturpflaster „Philippinen“ nahm Zuhörende im Jugendcafé am Markt mit zur Weltausstellung 1904
Bad Berleburg. „Hund zum Frühstück, Mittag- und Abendessen? Glaubten die Amerikaner das wirklich von uns?“ Diese Fragen stellt sich die 16-jährige Luki. Sie ist die junge Heldin des Jugendromans „Wild Song“ von Candy Gourlay. Die 63-jährige Schriftstellerin kam jetzt aus London nach Wittgenstein, geboren wurde sie auf den Philippinen. So passte sie hundertprozentig aufs aktuelle Berleburger Literaturpflaster. Die Geschichte, die sie geschrieben hat, spielt zwar nur am Anfang und ganz am Ende in dem südostasiatischen Archipel, aber auch die vielen Seiten dazwischen erzählen viel über die Philippinen und ihre Menschen. Es geht um die Igorot, ein indigenes Volk, das auf Luzon, der größten der philippinischen Inseln, lebt. Der Roman berichtet von Luki, die 1904 für ein knappes Jahr eigens für die Weltausstellung nach St. Louis im US-Bundesstaat Missouri transportiert wird.
Am Anfang des Buchs erfährt man, dass Luki mit Bäumen spricht und mit ihrer Mutter, obwohl die seit einem Jahr tot ist, aber als unsichtbarer Vorfahren-Geist weiter in ihrer angestammten Heimat lebt. Damit ist die spirituelle Atmosphäre klar. Zudem jagt und erlegt Luki gleich zu Beginn in einem körperlichen Kampf einen Keiler. In ihrem Dorf müssen sie und ihr Freund Samkad jedoch so tun, als habe er - als Mann - das Tier gefangen. Damit ist das soziale Umfeld beleuchtet. Aus dieser echten Welt flieht Luki zur phantasievollen Weltausstellung, einige Menschen aus ihrer Heimat sind dabei. Doch statt der ersehnten Freiheit findet die 16-Jährige ein neues Gefängnis. Wie Wilde, wie Zootiere werden die Igorot in ihren nachgebauten Hütten gezeigt. Luki erlebt weißen, arroganten Rassismus als Betroffene und Danebenstehende. Eine emanzipierte Amerikanerin macht ihr zudem klar, dass sie für Luki keine Freundin auf Augenhöhe ist, sondern eine starke Frau, die eine Untergebene sucht, die sie anhimmelt. Desillusioniert von Amerika kehrt Luki mit Samkad in die Heimat zurück - im Jugendcafé am Markt fühlte es sich für die meisten der 20 Zuhörenden wohl wie ein Happy End an.
Candy Gourlay hat ihr eigenes Happy End nicht auf den Philippinen gefunden. Mit sieben Jahren habe sie ihr erstes Buch gelesen und sofort gewusst, dass sie Jugendbuch-Schriftstellerin werden wollte. Dafür habe es keine Möglichkeit in ihrer Heimat gegeben. Stattdessen wurde sie Journalistin, lernte auf den Philippinen ihren Mann Mitte der 1980er Jahre während der Revolution gegen die Marcos-Diktatur kennen, ging mit ihm nach England und wurde Kinder- und Jugendbuch-Autorin. 2005 war sie erstaunt, als sie ein Schwarzweiß-Foto sah, das einen Filipino im Lendenschurz und eine sehr hochgeschlossene Frau zeigt, die Hand in Hand miteinander tanzen. Von der Frau ein unverzeihlicher Verstoß gegen die Etikette. Nach und nach habe sie immer mehr über Bild und Weltausstellung 1904 herausgefunden. „Wild Song“ führt die Geschichte von Luki und Samkad weiter, die in dem Roman „Bone Talk“ beginnt. Ob sie die Reihe weiter fortsetze? Nein, es sei langwierig und kräftezehrend gewesen, die beiden Bücher zu schreiben, bei einem dritten wäre sie über 70, wenn sie es fertig hätte. Sie zeichne jetzt lieber Comics, da schließt sich ein Kreis: Die kleine Wild-Song-Waise Sidong, die in Amerika auch noch ihre ältere Schwester verliert, zeichnet schon zuhause und auf der Reise nach Amerika mit Holzkohlestücken. In St. Louis bekommt sie Buntstifte geschenkt. Am Ende des Romans hat sie eine Galerie von Zeichnungen. Als Ermutigung für eine gute Zukunft. Damit ist sie die zweite, noch jüngere Heldin des Buchs - aber die Kleinen übersieht man ja leicht.
Nach der Lektüre des wunderbaren Romans ist man froh, wie sich die Welt und ihre Wahrnehmung in den vergangenen 120 Jahren verändert haben. Man ist dankbar, dass die Weltgemeinschaft immer mehr und immer klarer Wert auf angeborene Menschenwürde und ungeteilte Menschenrechte legt. Und dann fällt einem plötzlich ein amerikanisches Wahlduell von 2024 ein. Als der ehemalige und künftige Präsident Donald Trump über Migranten aus Haiti sagte: „In Springfield essen sie die Hunde, die Leute, die hiereinkamen, sie essen die Katzen. Sie essen die Haustiere der Leute, die dort leben.“ Herzlich willkommen am Anfang des 20. Jahrhunderts, die nächsten Jahrzehnte werden wohl schwer.
Text und Fotos: Jens Gesper