Ernesto Cardenal will Widerstand gegen interozeanischen Kanal formieren

Bis der neue Tag anbricht / Der sozialistische Dichter und Freiheitskämpfer befürchtet das Ende seiner Heimat Nicaragua: "Das Land ist verkauft worden, nein, verschenkt."

Das Publikum erhob sich für Ernesto Cardenal (l.), die Band 'Grupo Sal Duo' (Hintergrund) tat es den Besuchern gleich – und applaudierte dem Mann mit der schwarzen Baskenmütze und dem weißen Poncho für seinen Kampf für die Gerechtigkeit. (SZ-Foto: Timo Karl)

Bad Berleburg. (tika) Eine schwarze Baskenmütze bedeckt sein weißes Haar. In einem ebenso weißen Poncho und einer Gehhilfe in der rechten Hand betritt dieser ältere Herr die Bühne. Doch sein Gang ist aufrecht, sein Blick fokussiert. Ernesto Cardenal ist nicht müde. Der 90-Jährige hat den weiten Weg aus Nicaragua bis in die Aula des Bad Berleburger Johannes-Althusius-Gymnasiums auf sich genommen, um zu tun, was er sein ganzes Leben lang getan hat. Ernesto Cardenal will kämpfen. Kämpfen für das Wahre, Schöne, Gute. Für Freiheit. Für Frieden. Für Gerechtigkeit.

Ernesto Cardenal hat nur eine Waffe: Worte. "Ich komme, um den großen See zu besingen, der so sehr bedroht ist", ruft der einstige katholische Priester, Dichter und sozialistische Politiker dem Publikum während seiner Konzertlesung mit der Band "Grupo Sal Duo" am Mittwochabend zu. Der Dichter trägt – übersetzt von Lutz Kliche – einige seiner Werke vor, erzählt aus seinem Leben in Nicaragua. Doch eigentlich geht es nicht um ihn, es geht um sein Land. Und um das Unrecht, das Präsident Daniel Ortega dort walten lässt. Ohne demokratischen Entscheid oder eine Ausschreibung hat das Staatsoberhaupt einen Auftrag an ein chinesisches Unternehmen erteilt, das bisher niemand kannte. Einen Auftrag, der ein ganzes Land, seine Menschen und seine Umwelt bedroht.

"Präsident Ortega will einen interozeanischen Kanal bauen, der die Seen von Nicaragua zerstört. Die Umwelt. Und Existenzen. Ich will das Verbrechen, dass gegen unser Volk und die ganze Menschheit begangen wird, publik machen", konstatiert der Dichter vom großen See des Archipels von Solentiname. Jenem Ort, an dem Ernesto Cardenal einst eine christliche Gemeinde gegründet hat, die nun existenziell bedroht ist.

Konzentriert, fokussiert, leidenschaftlich: Ernesto Cardenal (l.) erzählte aus seinem Leben und las aus seinem Werk. Lutz Kliche (r.) übersetzte Gedichte und Appelle. (SZ-Foto: Timo Karl)

"Die Konzession an das chinesische Unternehmen beinhaltet nur Rechte, die das Unternehmen haben soll – keine Pflichten. Jegliche Informationen über den Kanalbau sind vertraulich, so dass wir nichts erfahren und deshalb nichts gegen das Unrecht unternehmen können sollen", moniert Ernesto Cardenal. Anders gesagt: Das Unternehmen ist ad hoc mit allen nötigen Genehmigungen ausgestattet, im Land zu bauen und Menschen zu enteignen – zu seinen Bedingungen.

"Diese Konzession geht gegen jedes Gesetz und die Verfassung. Im Gegenzug sieht Nicaragua keinen einzigen Cent Steuern. Das Land ist verkauft worden, nein, verschenkt", erklärt der Poet, dem sein Land so sehr am Herzen liegt. Einen Teil seiner Schulzeit, erzählt er, hat er in einem Internat direkt am großen See von Solentiname verbracht. "Ich konnte zu jeder Zeit die Schönheit des Sees betrachten, ich war regelrecht besessen. Es war das Paradies", erinnert sich Ernesto Cardenal. Ein Paradies, das davon bedroht ist, von der Landkarte zu verschwinden. "Mit dem Bau des Kanals zwischen atlantischem und pazifischen Ozean würde der Meeresspiegel um zwei Meter ansteigen und das Paradies wäre Geschichte", ist sich Ernesto Cardenal sicher.

Ihm blutet buchstäblich das Herz, immer wieder gestikuliert er wild, entschlossen, Widerstand zu formieren. Global. Es ist ein Weckruf an die Welt – die Welt soll hinsehen. Schon einmal musste er sein Land hinter sich lassen. Im Jahr 1977, flüchtete der Sympathisant der Revolution in Nicaragua, die sich gegen die Diktatur von Anastasio Somoza García richtete, ins Exil nach Costa Rica. Soldaten zerstörten die Einrichtungen auf Solentiname. Zwei Jahre später kam Ernesto Cardenal zurück – am 19. Juli 1979, dem Tag des Sieges der Revolutionäre. "Ich habe mir den Sieg immer wie einen Tagesanbruch vorgestellt, wenn die Sonne aufgeht", erzählt der Dichter, der diese Metapher ebenfalls in einem Gedicht verarbeitet hat, das er vorträgt. Er sehnt diesen Tagesanbruch erneut entgegen, doch noch ist es tief in der Nacht. "36 Orte sind abhängig vom großen See. Wenn der Kanal kommt, kann der See nicht mehr genutzt werden – nicht für die Fischerei, nicht zur Trinkwassergewinnung. Er ist dann nur noch nutzbar für die Container-Schifffahrt. Sämtliche Oberflächen und Wasserressourcen sind an das chinesische Unternehmen ausgeliefert", erzählt Ernesto Cardenal.

Er sieht die große Zerstörung, die Teilung Nicaraguas gleichsam der von BRD und DDR, die Teilung der Flora und Fauna – mit ungewissen Folgen für das ökologische und soziale Gleichgewicht. Er sieht "die größte Bedrohung der Umwelt in der Geschichte unseres Landes. Präsident Ortega nennt dieses Schreckensszenario den Eintritt ins gelobte Land". Dabei ist er im Begriff, das gelobte Land zu zerstören. Für immer. Und damit auch den großen See. Jenen See, den sie in Nicaragua so lieben.

"Ich möchte euch verraten, warum uns der große See und die Seen so sehr faszinieren", richtet sich Ernesto Cardenal bedeutungsvoll ans Publikum, "sie faszinieren uns so sehr, weil sich in ihnen Gott widerspiegelt." Er ist noch lange nicht müde. Er will, dass Nicaragua nicht zu einem gottverlassenen Ort avanciert. Er will nicht, dass es für immer dunkel bleibt. Deshalb will er kämpfen. Für das Wahre, Schöne, Gute. Bis der neue Tag anbricht.

Von Timo Karl


Siegener Zeitung (13.03.2015)
Internet: www.siegener-zeitung.de
Bildquelle: SZ-Fotos (2) von Timo Karl (tika)

Siegener Zeitung

© 2007-2015 Berleburger Literaturpflaster - Literatur & Kultur aus dem Schwerpunktland der Frankfurter Buchmesse.
Impressum :: Datenschutz :: powered by jr webdesign