Ein System, das lügt und vergisst

Der Istanbuler Schriftsteller Murat Uyurkulak und die Hamburger Übersetzerin Sabine Adatepe touren mit dem Buch 'Zorn' durch den deutschsprachigen Raum. Theaterfassungen sind bereits auf Deutsch, Türkisch und Polnisch erschienen. (WR-Foto: Stefan Kascherus)

Der türkische Autor Murat Uyurkulak las beim Literaturpflaster aus seinem Buch "Zorn"

Bad Berleburg. (sk) Die unmittelbare, ungeschönte, hasserfüllte Abrechnung, die Vergeltung an der türkischen Geschichtsrevision und die gnadenlose Darstellung einer anderen, einer oppositionellen, authentischen Geschichtsschreibung mit persönlichem Zorn. Das ist das Erstlingswerk des türkischen Autors Murat Uyurkulak.

Vorgestellt in Bad Berleburg, hat es der Autor im Rahmen des Berleburger Literaturpflasters in der Verkaufshalle des HIT-Marktes mit Lektorin und Übersetzerin Sabine Adatepe vorgestellt.

Nah, direkt, mit brutaler Wortgewalt und stilistischem Ekel übergeht Uyurkulak mit seinem Erstlingswerk Konvention, Ritual und Norm, bricht eine Lanze avantgardistischer Gegenwartslektüre über den dunkelsten Kapiteln Kleinasiens auf das Erlebte, das Authentische herunter.

Hasserfüllt, der Titel "Zorn", der von den schweizer Übersetzern nicht besser hätte auf das Buch gelegt werden können, spiegelt den Inhalt wider. Autobigraphisch, hingerissen und ungekünstelt, emotional, desillusioniert und betrogen, der Roman zeigt viele Facetten der linken türkischen Seele. Hauptangelpunkt der Handlung um den jungen Lektoratsgehilfen Yussuf und den "alten Kämpfer", der im Roman nur als "der Dichter" bezeichnet wird, sind die Erlebnisse einer ganzen Generation, einer Generation, deren Hoffnungen und Wünsche nach einer Revolution mit dem Militärputsch vom 12. September 1980 ein jähes Ende fanden, einer Generation, die im Verborgenen aber weiterhofft, weiterwünscht; die Demokratie, Laizismus und Freiheit auf ihren angebrannten Fahnen stehen hat.

Yussuf, Waisenkind türkischer Provinz, dessen Mutter als Wortführerin der Revolutionäre einen gewaltsamen Tod während seiner Grundschulzeit erleiden musste und dessen Vater es nie kennen lernte, verliert nach dem Auftauchen seiner politischen Polizeiakte die Anstellung in einem Lektorat, in dem er für einen Hungerlohn seine Überzeugungen verkaufen musste.

Als er beschließt, spurlos aus seinem alten Leben in ein neues einzutauchen, begegnet er im Abteil des Zuges von Istanbul nach Diyarbakir nicht ganz zufällig dem Dichter. Als sie sich in der intimen Atmosphäre des abgeschlossenen Abteils unterhalten, bauen der junge, enthusiastische Revolutionär und der alte, desillusionierte Kämpfer eine fast väterlich-versöhnliche Beziehung auf. Als der Dichter Yussuf einen Stapel mit Gesprächsnotizen, Manuskripten und Tagebucheinträgen zur Hand gibt, merkt dieser schnell, dass es sich um das Werk seines Vaters handelt.

Bücherverbrennung, Folter, Presse-Zensur, Auflösung des Parlaments, Verbot aller politischen Parteien, Exekutionen, Scheinprozesse, Berufsverbote, Flucht.

Schreckliche Auswirkungen des Militärputsches

Die schrecklichen Auswirkungen des Militärputsches von 1980, als die Militärführung der Türkei unter Generalstabschef Kenan Evren im dritten Putsch der türkischen Geschichte mit Gewalt und Brutalität den Staat nach eigenem Ermessen vereinnahmte, haben in der Türkei tiefe Narben hinterlassen. Quer durch die politischen Lager wird der Putsch als eines der schlimmsten Kapitel der türkischen Geschichte verurteilt. Murat Uyurkulak geht weiter. Er klagt an, beklagt die Opfer, zeigt keine Zahlen und nüchterne Protokolle, er zeigt Menschen.

Er zeigt das demaskierte Gesicht des Terrors in einzigartig fesselnder Erzählkunst. Auffallende biographische Ähnlichkeiten zwischen der Romanfigur Yussuf und Murat Uyurkulak sind keinesfalls zufällig. Im WR-Gespräch erzählt der in Istanbul lebende Autor in akzentuiertem Englisch von seiner Jugend, als Kind eines kommunitischen Literaten und einer linken Grundschullehrerin wurde er zwangsläufig, teils widerstrebend, an Bücher herangeführt, hielt sich nach angebrochenen Studien in den Fächern Jura und Kulturhistorik mit Nebenjobs als Kellner, Journalist und Lektor über Wasser, bis er nach Istanbul ging und "Tol", wie "Zorn" im türkischen Original heißt, zu verwirklichen.

"Tol" ist eigentlich ein Wort, dass in der türkischen Sprache nicht vorkommt, als "Rache" ist es im kurdischen Sprachraum ein fester Begriff emotionaler Wut und Vergeltung. Vergeltung an einem System, dass lügt, vergisst und verdrängt.

Ein linkes, tiefgehendes und mehr als wichtiges Werk als Beitrag türkischer Öffnung und Vergangenheitsbewältigung. Nach der überwältigen Resonanz auf den Roman und der ebenfalls enthusiastischen Reziption des Zweitwerkes "Har" ist Murat Uyurkulak ein Star der türkischen Gegenwartsliteratur. Die Lesung des traurig und abwesend wirkenden Mannes, der sich selbst als tragisch-depressive Gestalt darstellt, ohne selbstdarstellerisch zu sein, bereicherte das Literaturpflaster um einen weiteren, vom bunten, oberflächlichen Populismus weit entfernten Aspekt des diesjährigen Gastlandes der Frankfurter Buchmesse.

Von Stefan Kascherus

Info

Genaue Übersetzung

  • Murat Uyurkulak: Zorn; 352 Seiten (gebunden); Unionsverlag;
    Auflage: 1 (August 2008); ISBN-13: 978-3293100114.
  • Das Buch erschien als 12. Band der Reihe "Türkische Bibliothek" im Unionsverlag.
  • Sabine Adatepe arbeitete an der Übersetzung dieser reihe mit, die eine möglichst genaue Übersetzung türkischer Gegenwartsliteratur der letzten 50 Jahre zum Anspruch hat.

Westfälische Rundschau (15.10.2008)
WR-Bild: Stefan Kascherus (sk)

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