Enthusiastisch durch Raum und Zeit

In ihrem Köfferchen hatte Dr. Gisela Kraft (rechts) einige ihrer Werke dabei. Nachdem sie ein paar verkauft hatte, gab es Platz im Gepäck für den Berleburger Literaturpflasterstein, mit dem ihr Rikarde Riedesel für den Vortrag gedankt hatte. (SZ-Foto: Jens Gesper)

Dr. Gisela Kraft stellte rund 50 Zuhörern in der Apotheke mit Begeisterung türkische Literatur vor

»Ich wollte ein Regal bauen, aber ich baute einen Vers, darin viele Bücher Platz hatten.« Dieser Satz stammt von Dr. Gisela Kraft, die am Mittwochabend auf dem Berleburger Literaturpflaster eine Einführung in die türkische Literatur gab.

Bad Berleburg. (jg) Die erste literarische Veranstaltung der traditionsreichen Reihe fand – wie üblich – in der Berleburger Kur-Apotheke statt, damit fiel deren Chef Karsten Wolter auch diesmal die Begrüßung zu. So wie diese in jedem Jahr dank seines Apotheker-Wissens besonders ausfällt, so fiel diesmal auch der Vortrag besonders aus. Das hatte sich schon vor der Veranstaltung abgezeichnet. Die Referentin habe ihr gesagt, so Rikarde Riedesel als Haupt-Organisatorin der Reihe, dass sie ihre Einführung in die türkische Gegenwartsliteratur als Schriftstellerin, nicht als Wissenschaftlerin geben werde. Dementsprechend poetisch lautete die Fragestellung in der Überschrift: »Wird es Abend im Morgenland?«

Dass der Vortrag etwas anders ausfiel hatte aber wohl nicht nur damit zu tun, dass die 1936 in Berlin geborene Vortragende seit ihrer Übersiedlung in die DDR vor 24 Jahren als freischaffende Schriftstellerin arbeitet. Sondern auch damit, dass sie zunächst einmal 1956 bis 1959 Schauspiel und die ausdrucksstarke Bühnentanzkunst der Eurhythmie studierte. Mit diesem Rüstzeug konnte sie ihren Vortrag inszenieren, obwohl sie eigentlich still auf dem Stuhl saß. Nicht nur, wenn sie vor allem Lyrik aus den verschiedenen Jahrhunderten deklamierte. Hinzu kam zudem noch die brennende Leidenschaft, mit der Gisela Kraft ihr schier unendliches Wissen zum Thema vortrug. Das hatte vielleicht auch mit dem Weg zu tun, wie die Berlinerin ihre Liebe zur Türkei gefunden hatte. Mit 32 Jahren habe sie zum ersten Mal jemanden Türkisch sprechen gehört. Sie sei von der Sprache so begeisterte gewesen, dass sie sich gleich eine Grammatik gekauft habe. Sie habe anschließend allein für sich gelernt und mit 36 begonnen, Islamwissenschaften zu studieren. Das war zwar nicht der pfeilgerade akademische Weg einer wissenschaftlichen Karrieristin, aber eben ein Weg, der mit viel Enthusiasmus und Engagement gegangen wurde.

Und das merkte man dem Vortrag von Gisela Kraft in jeder Sekunde an. Wenn sie den rund 50 Zuhörern auch sofort eine Illusion nahm: »Sie erwarten Prosa, aber bis 1900 hat es keine Belletristik in der türkischen Literatur gegeben.« Stattdessen viele Gedichte, gern gesungen vorgetragen, und ein unendlich großer Schatz an Geschichten, der von professionellen Erzählern auf den Markplätze oder innerfamiliär – insbesondere von den Großmüttern – weitergegeben wurde.

Eingebettet wurden diese speziellen Informationen in das große Ganze, oder wie sagte Gisela Kraft: »Jetzt müssen wir ein bisschen Geschichte machen.« Aus dem elften Jahrhundert ging es viele Jahrzehnte zurück, anschließend wieder ins 13., 14., 16., 18., schließlich sogar ins 20. Jahrhundert. Wichtig war es der Fachfrau, dass die Zuhörer begriffen, dass die Türken lange Jahrzehnte unterwegs waren, bis sie endlich das Gebiet einnahmen, auf dem die heutige Türkei liegt. Diese nomadisierende und die Siedlungen langsam vorwärts schiebende Entwicklung schien Gisela Kraft ein entscheidendes Merkmal – auch für die fehlende Verschriftlichung. Darüber betonte sie die starken Einflüssen des Persischen und Arabischen auf die türkische Literatur, schließlich hatten die Türken bis 1928 die gleichen Schriftzeichen wie Araber und Perser. Dann übernahmen sie unsere lateinischen Buchstaben, weil Kemal Atatürk gern gen Westen schaute und weil das vokal-reiche Türkisch schlecht mit dem selbstlaut-armen arabischen Alphabet abzubilden war.

Ein ganz entscheidender Unterschied in der türkischen Literatur sei im übrigen der zwischen der ländlichen und der städtischen Dichtung. Erst heutzutage – aufgrund der Einflüsse aus dem Ausland – breche diese scharfe Trennung auf. Und deshalb fand Gisela Kraft schon, dass es Abend wird im Morgenland. Wobei die alten Symbole und festen Themen der türkischen Literatur weiterbestehen. Die Frau aus Weimar verwies auf das Pferd und den Ochsen, die Rose und die Nachtigall, den Berg, der im Nebel liegt, und die Reise, die immer wieder in Richtung Osten führt. Ein sehr gutes Beispiel dafür biete Mitte Oktober die Lesung von Murat Uyurkulak auf dem Berleburger Literaturpflaster. Der hatte übrigens Jura studiert, bevor er Schriftsteller wurde. Wahrscheinlich keine schlechte Vorbereitung, denn wie sagte Gisela Kraft: »Es gehört zum guten Ruf eines türkischen Autors, mal im Gefängnis gewesen zu sein oder wenigstens einen Prozess gehabt zu haben.« Für die Türkei von heute war das hoffentlich eine bitterböse Überspitzung der Situation.


Siegener Zeitung (19.09.2008)
SZ-Foto: Jens Gesper (jg)

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